Seniorentanz
- gabrieleheyne
- 31. Okt.
- 3 Min. Lesezeit

Inge steht vor dem Kleiderschrank und betrachtet ihre Kleider, Blusen und Röcke - und überlegt. Als erstes fällt ihr das rote Kleid ins Auge. Sie trug es, als sie Ernst kennen lernte. Er war ja ganz lieb, aber er war immer so geizig. Nicht einmal hat er ihr einen Kaffee bezahlt. Das rote Kleid nicht, beschloss sie.
In der Zeitung steht, dass wieder Seniorentanz in der Stadthalle ist und dafür will sie sich chic machen. So gleitet ihr Blick über die Kleidungsstücke in ihrem Schrank, die sich alle mit einer Erinnerung verbinden. Sie greift zu der gestreiften Bluse und dabei fällt ihr ein, dass sie in dieser Bluse mit Hans getanzt hatte. Aber der ist ihr immer auf die Füße getreten und konnte sich die Schrittfolgen nicht merken. Dabei tat er immer so, als ob er es besser wisse. Nein, die gestreifte Bluse nicht.
Inge streicht über das Kleid mit den kleinen Blumen - es ist zwar Herbsttanz, aber warum keine Blumen? Sie lächelt ein wenig verträumt und erinnert sich, wie sie in Wolfgangs Armen getanzt hatte, ja gelegen hatte und sich dabei so jung fühlte - er war ein guter Tänzer. Aber dann fror ihr Lächeln zu einer Grimasse. Helene war gekommen, hatte Wolfgang aufgefordert und ihn mit Beschlag belegt, was ihm wohl gefiel. Sie schiebt das Kleid mit den Blumen mit einer energischen Bewegung zur Seite.
Zwischen all den Kleidern hängt auch eine schwarze Hose. Sie erinnert, dass sie einmal mit der Hose zum Tanzvergnügen gegangen ist. Aber sie hatte immer im Ohr, wie ihre Mutter ihr sagte, dass eine Hose für eine Frau generell unschicklich ist. So fühlte sie sich den ganzen Abend nicht wohl und fand auch keinen interessanten Tänzer - nur Norbert, der ihr während des Tanzens seine Lebensgeschichte erzählte und auch die Tatsache, dass er inkontinent ist, nicht verschwieg. Sie wird nie mehr eine Hose zum Tanzen tragen.
Dann fällt Inges Blick auf den schwarzen Rock und die weiße Bluse. Den schwarzen Rock hatte sie an bei der Beerdigung von Paul. Paul war ein großer stattlicher Mann, mit dem man sich sehen lassen konnte. Er hatte eine tiefe warme Stimme. Das war schön. Aber er setzte diese schöne Stimme ein, um ihr zu sagen, dass Kaffee ihr schadet, welches Essen gesund ist und dass sie mehr Sport treiben soll. Er schleppte sie ins Sportstudio und zum Qi Gong, verdarb ihr den Appetit an einem Schnitzel und selbst ein Glas Wein war Sünde. Kurzum, er wusste genau, wie man gesund lebt, um dann plötzlich zu sterben, einfach so, ohne Grund und Vorwarnung. Seit dem isst sie wieder mit Genuss ein Schnitzel, trinkt ihren Kaffee und freut sich am Abend auf ein Glas Wein oder auch zwei, sie hat ja schließlich Nachholbedarf.
Jetzt bleibt nur noch das blaue, enge Kleid. Aber das passt nur mit der Bauch-weg-Korsage und die ist so unbequem.
Inge klappt die Schranktür zu, zieht sich ihren Mantel über und nimmt ihre kleine Handtasche unter den Arm. Sie macht sich auf, um ein Kleid zu kaufen. Ein hübsches Kleid, angenehm zu tragen, für einen wunderbaren Seniorentanzabend. Und dabei träumt sie davon, einem Mann zu begegnen mit einer schönen Stimme, groß und stattlich, der sie trägt im Takt der Musik, ihr einen Kaffee bezahlt und sie sein lässt wie ist …
