Gravensteiner
- gabrieleheyne
- 9. Sept. 2024
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Feb.

Hilde sitzt in ihrem alten, bequemen Sessel am Fenster. Sie schaut hinaus in den Garten. Es ist August und noch sehr heiß. Der Anblick der Blumen erinnert sie, dass sie heute noch gießen sollte. Seit im Garten ein Brunnen ist, macht Gießen Spaß. Das Wasser aus der Erde ist wunderbar kühl und frisch.
Die Nachbarin hatte vorhin eine Tüte mit Äpfeln vor die Tür gestellt. Für Hilde sind das ganz besondere Äpfel, die man im Supermarkt nicht bekommt, sondern nur von einem Nachbar oder vielleicht in einem Hofladen. Es ist der Gravensteiner Apfel, eine alte Apfelsorte, grün/gelb mit rosa Streifen, süß-säuerlich, würzig und saftig, und der ist reif, wenn sie Geburtstag hat, Ende August.
Sie erinnert sich an den Apfelbaum im Garten der Gärtnerei, in der sie aufgewachsen war, und daran, dass sie diese Äpfel besonders gerne mochte. Der Baum stand am Ende des Grundstückes - ein wenig versteckt.
Damals nach dem Krieg war alles Essbare kostbar und alles, was im Garten wuchs, wurde verkauft. So wurden alle schönen Äpfel, die keine Wurmlöcher hatten, abgepflückt oder eingesammelt und in den Laden gebracht, wo Hildes Mutter sie verkaufte. Es war üblich, dass die Familie nur ausgeschnittenes, angestecktes Obst aß. Welch´ ein Schatz, wenn es niemand sah und sie einen wunderschönen Apfel erst ausgiebig betrachtete, die rosa Streifen mit den kleinen Fingern nachzeichnete und dann genüsslich aß.
Manchmal wurde sie dann doch von einem Wurm überrascht, der es sich ganz in der Mitte des Apfels gut gehen ließ. Aber es waren eben die Äpfel, die zu Boden gefallen waren. Der Baum war recht hoch und sie noch klein und so kam sie an die Zweige nicht ran.
Jetzt ist sie achtzig, hält wieder so einen grün/gelben Apfel in der Hand, zeichnet mit ihren alten, faltigen Händen rosa Linien nach und freut sich auf die würzige, saftige Süße.


