Der Ernst des Lebens
- gabrieleheyne
- 16. Mai
- 2 Min. Lesezeit

Hilde erinnert sich an die Einschulung ihrer Enkelin. Die Kinder waren alle vergnügt und lachten, als sie aufgerufen und eingeteilt wurden und zu ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer. Da sagte hinter ihr ein Mann mit knorriger Stimme: „Denen wird das Lachen noch vergehen.“ Im ersten Moment war Hilde betroffen von seinen Worten. Aber dann sah sie ihn an - es war ein alter Mann - und erinnerte sich wie es bei ihr war - damals in der Grundschule. Die Jungs hatten tatsächlich nichts zu lachen. Die ersten drei Schuljahre hatten sie einen strengen, boshaften, ja fast sadistischen alten Lehrer, der dann - zum Glück für alle Schüler - in Ruhestand ging. Die Mädchen hat er weitgehend verschont. Aber die Jungs bekamen bei eder Kleinigkeit Tatzen, und zwar so, dass es richtig wehtat. Hilde hat noch die Gesichter der Jungs in Erinnerung, wie sie sich Mühe gaben, ihren Schmerz nicht zu zeigen.
Aber auch Hilde hat eine unangenehme Erinnerung an den Lehrer, und das war so:
Ihre Mutter hatte wenig Zeit für sie, und wenn die Mutter mal Zeit hatte, dann war das etwas ganz Besonderes für Hilde. Man sagte ihr immer, dass sie ganz brav sein muss, dann hat die Mutter auch mehr Zeit. So wurde Hilde zu einem sehr braven Mädchen und hielt alles von der Mutter fern, was diese belasten könnte.
An einem Sonntag war so eine Zeit-Sternstunde mit ihrer Mutter, und sie bastelten gemeinsam aus buntem Papier Lesezeichen. Am folgenden Montag war Hilde noch ganz beseelt und glücklich über die Buchzeichen, die, für sie gefühlt, ein Liebesbeweis ihrer Mutter waren. In ihrer Freude hatte sie diese schönen bunten Werke in einem aufgeschlagenen Buch auf ihrer Schulbank liegen. Der Lehrer ging durch die Reihen, sah die Buchzeichen, nahm sie und sagte: „Und dass du erst gar nicht damit spielst …!“ und warf die kostbaren Papierstücke allesamt in den Ofen. Das hat Hilde ihm nie verziehen.
In der großen Pause mussten sich die Schüler in Zweierreihen in einem Kreis aufstellen und dann brav ihre Runden drehen. Es war einem Gefängnishof sehr ähnlich.

Es war die Zeit der Poesiealben mit holprigen Texten wie:
„Sei wie das Veilchen im Moose, stets bescheiden und rein.
Nicht so wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein!“
Was waren das für Werte, die man den Mädchen da mitgegeben hat?
Hilde, die Rosen liebte, verstand diesen Spruch schon damals nicht.
Bei den Texten der Mitschülerinnen ging es immer um folgsamen Glauben, Bescheidenheit und Anpassung. Individualität, Ermutigung, Anerkennung oder gar Bestärkung gab es nicht. Bunte Papierbilder, ähnlich wie heute die Stickers, schmückten die Seiten und die Mädchen hatten viel gemalt. Richtige Kunstwerke gab es da.
Ansonsten hat Hilde nicht viele Erinnerungen an diese Zeit. Sie kann sich nicht an die Einschulung erinnern. Der Vater war in Russland und die Mutter hatte nie Zeit und war über die ganze Schulzeit nicht ein einziges Mal in der Schule - weder in der Grundschule noch im Gymnasium.
Heute, nach vielen Jahren der Aufarbeitung, weiß Hilde, warum sie die Zeit der Grundschule
aus ihrem Gedächtnis verdrängt hat. Sie hatte früh gelernt, mit erfahrenem Schmerz allein zu sein. Schmerz, den ihr der Großvater zugefügt hatte aber niemand hat es sehen oder hören wollen …


