top of page

Missbrauch an dem kleinen Mädchen

  • gabrieleheyne
  • 7. Okt.
  • 7 Min. Lesezeit

ree

In Hildes Leben gab es lange, sehr lange Zeit ein Geheimnis. Als sie noch klein war, war ihr verboten worden, darüber zu reden, und dann lag die Last des Erlebten so schwer auf ihr, dass sie nicht darüber reden wollte und konnte. Sie hatte gehofft, mit den Jahrzehnten zu vergessen. Aber eine gequälte Seele vergisst nicht. So wie alles gespeichert ist, was schön war, so ist auch alles gespeichert, was weh tat und beeinflusst gleichermaßen das Leben, die Träume und die Verhaltensweisen. Dann kann es sein, dass es so passiert, wie es Hilde geschehen ist.

 

Es brach im hohen Alter ohne Vorwarnung auf und es war so heftig, dass es Hilde völlig durcheinander brachte. Dabei hatte alles ganz harmlos und fröhlich angefangen. Eine Geburtstagsfeier in der Familie und die kleine Enkelin begrüßte den Großvater mit einer herzlichen Umarmung. In diesem Moment, bei diesem Anblick, machte es in Hildes Kopf klick - nein - nicht nur im Kopf, sondern im ganzen Körper. Es war ein Schrei der Verzweiflung, der durch ihren ganzen Körper ging. So empfand sie es damals, an diesem eigentlich schönen Sommertag. Ihr spontaner erster Impuls war, dazwischen zu gehen, das Mädchen wegzureißen, um es zu schützen - für einen Augenblick - dann setzte ihr Verstand ein, der ihr sagte, dass hier alles in Ordnung ist.

Sofort wurde ihr klar, dass dieses Gefühl ausgelöst war von dem Schmerz aus ihrer Erinnerung, der sie plötzlich mit voller Wucht traf und sich nicht verdrängen ließ, so wie in ihrem Leben bisher. Für Minuten war sie wie betäubt - musste sich erst wieder zurecht finden. Irgendwie überstand sie den Nachmittag, aber ihr war übel und sie hatte heftige Bauchschmerzen.

Von da an waren die Nächte dramatisch. Albträume plagten sie. Hilde rief im Schlaf laut um Hilfe und schlug um sich. Der „Mann der Tat“, der neben ihr nicht mehr zur Ruhe kommen konnte, zog vorübergehend aus dem gemeinsamen Bett aus.

Hilde hatte in ihrem Leben schon mehrfach psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen, aber immer abgebrochen, wenn es um die Erinnerungen an ihren Großvater ging. Allein der Gedanke an ihn machte ihr Herzklopfen, ihr Körper verspannte sich und sie bekam feuchte Hände. Nein, darüber wollte sie nicht reden, sich nicht erinnern. Sie hatte Angst vor den Erinnerungen, die sie tief in ihrer Seele versteckt hielt, über viele Jahre.

Jetzt - heute - war ihre Seele so in Aufruhr, dass ihr klar wurde, dass sie sich diesen Erinnerungen stellen muss.

Hilde setzte sich an den PC und suchte nach einem Therapeuten oder einer Therapeutin. Das war nicht ganz einfach, denn das Profil und auch die Behandlungsmethoden sollten ihr zusagen. Durch ihren Beruf kannte sie sich damit aus. Sie fand einen erfahrenen Therapeuten, etwa 60 km entfernt, und sie war  bereit, den langen Weg wöchentlich zu fahren. Es stellte sich dann heraus, dass der Weg zu ihm direkt an dem Grundstück vorbeiführte, wo die Ereignisse mit Hildes Großvater stattgefunden hatten. Zufall?

Der Therapeut war eine gute Wahl. Zwei Jahre fuhr Hilde jede Woche den weiten Weg zu ihrer Therapiestunde. In diese Zeit fiel auch die Corona-Pandemie. Da wurden die Gespräche am Telefon fortgesetzt.

 

Hilde war zehn Jahre alt, als der Großvater starb. Die ersten Bilder ihrer Erinnerung an ihn, waren Bilder eines lieben und zugewandten Großvaters, der ihr als Gärtner im Garten und in den Treibhäusern die Schönheit der Natur nah brachte. Für ihn war die Natur in ihrer immer wiederkehrenden Schönheit das Synonym für Gott. Hilde hat noch heute einen ganz besonderen Bezug zur Natur. Sie hat gerne ihre Hände in der Erde und spricht mit den Pflanzen, weil sie sie als lebendig empfindet.

Irgendwann begannen die Übergriffe des Großvaters, seine Hand unter ihrem Röckchen und sie sollte sein Glied anfassen. Anfänglich wehrte sie sich. Da sagte der Großvater zu ihr, dass er sie liebt und sie ihn doch auch liebt und dass das dazugehört. Und er legte immer den Finger auf den Mund und bedeutete ihr, dass das ein Geheimnis sei und sie nicht und mit niemandem darüber reden darf. Hilde weiß, dass sie, als das begann,  noch nicht in der Schule war.

Er war ein großer Mann, vor dem alle im Ort Respekt hatten und sie war klein, verstand das alles nicht.

In der Weihnachtszeit, wenn der Großvater die Klappläden um das Haus herum zu machte, dann legte er für Hilde eines von den bis Heilig Abend wohlbehüteten Plätzchen, zu denen er Zugang hatte, auf die Fensterbank. Dafür musste sie ihm nach dem Essen beim seinem

Mittagsschlaf den Kopf kraulen. (Das meist fette, schüttere Haar fand sie widerlich.) Der Großvater rauchte heimlich, das durfte die Großmutter nicht wissen. Er schickte Hilde in die nahe gelegene Gaststätte, um die Zigaretten zu kaufen und sie bekam dafür 10 Pfennige Schweigegeld. (Dafür gab es damals eine ganze Kugel Eis).

Bei den Mahlzeiten, wenn alle aus der Großfamilie um den großen Tisch saßen und Hilde die ganze schlechte Laune der Erwachsenen zu spüren bekam, denn sie war die Kleinste und konnte sich am wenigsten wehren, dann ergriff er für sie Partei. Allerdings mit einem Zwinkern.  Dieses Zwinkern bedeutete „wir treffen uns gleich im kleinen Treibhaus und du machst mir Freude“.

Ihm Freude zu machen bedeutete, ihn oral zu befriedigen. Hilde glaubte oft, sie müsse ersticken dabei.

Wusste oder ahnte das wirklich niemand?

Immer wieder machte er ihr klar, dass sie dafür verantwortlich sei, dass es ihm gut geht oder dass sie schuld sei, wenn es ihm nicht gut geht. Seine Übergriffe wurden immer intensiver bis hin zu den Vergewaltigungen am Grundstücksende in dem kleinen Wäldchen. Es gibt Bilder in ihr, wie sie ihn bettelt, von ihr abzulassen, weil es so weh tut. Aber er lachte nur in seiner Ekstase. Der anfänglich liebevolle Großvater war für  Hilde zu einem Monster geworden.

 

Hilde kann sich erinnern, dass sie schüchtern stotternd, weil sie keine passenden Worte fand und es ja auch verboten war, darüber zu reden, sich einem Erwachsenen anvertrauen wollte. Sie weiß noch, dass es eine Frau aus der Familie war, aber nicht mehr wer. Aber sie wurde entrüstet zurückgewiesen und es wurde ihr bei Strafe verboten „so etwas“ über diesen Mann zu sagen. Der Großvater war ein angesehener Mann am Ort!

 

Er starb, als Hilde zehn Jahre alt war. Das Martyrium ging etwa fünf Jahre. Sie staunt heute, wieviel Kraft ein kleines Mädchen hat, um damit leben zu können, ohne daran zu zerbrechen.

Während der Therapie hat Hilde oft so sehr geschluchzt, dass sie glaubte, daran ersticken zu müssen. Der Schmerz und die Verzweiflung von Jahren brachen da aus ihr heraus.

Nach einem guten Jahr ambulanter Therapie verbrachte sie vier Wochen in einer Klinik. Sie brauchte diesen geschützten Raum, weil sie das Gefühl hatte, dass die Erinnerungen sie vollständig erdrücken. Danach setzte sie die ambulante Therapie fort.

Der „Mann der Tat“ war Hilde in dieser Zeit sehr hilfreich, einfach, weil er ihr Seelendrama aushielt, weil er ihr zuhörte, auch, wenn es ihn fassungslos machte.

Ganz allmählich ebbten die dramatischen Gefühle ab, und ganz langsam konnte sie Abstand gewinnen zu dieser Zeit ihrer Erinnerungen.

Mit zunehmendem Abstand erkannte sie, wie sehr diese Erlebnisse ihr weiteres Leben geprägt haben. Sie wusste nicht, was persönliche Grenzen sind und dass man auch NEIN sagen darf. Ihr wurde auch klar, dass Menschen, die nicht lernen durften, Grenzen zu setzen, zwei Mal gestraft sind. Einmal, weil das Überschreiten von Grenzen schon bei dem Erleben

der Seele weh tut, denn das Bedürfnis, dass persönliche Grenzen respektiert werden, ist angeboren. Zum anderen, weil die Menschen, die persönliche Grenzen nicht kennen lernen durften, die dadurch alles mit sich machen lassen, die nicht wissen, dass ein NEIN ihnen zusteht, werden dann nicht nur benutzt, sondern auch respektlos als charakterschwach bezeichnet.

Hilde kämpfte ihr Leben lang darum, dass ein NEIN von ihr wahrgenommen und respektiert wird. Immer und immer wieder traf sie auf Menschen, die ihr NEIN ignorierten. Es war, als stünde auf ihrer Stirn: „Mit mir darf man alles machen“ oder „die darf man zu allem überreden“ oder „deren Meinung zählt nicht“. Das klingt krass, aber sie hat es so erlebt.

 

Depressionen und damit verbundene Todessehnsucht zogen sich durch ihr ganzes Leben. Mal waren die Symptome schwach  - mal heftig. Es war ihr trotz allem immer gelungen, die schlimmste Depression zu besiegen.

 

Hilde hat nie ihr Leben gelebt, sondern das, was sie glaubte für andere leben zu müssen.

Immer glaubte sie, für das Wohlergehen von anderen zuständig zu sein.

Es plagen sie ewige Schuldgefühle verschiedenster Art.

Hilde fühlt sich immer lästig, nie wirklich willkommen. Noch heute überlegt sie stets, was sie tun oder bringen könne, um erwünscht zu sein.

Ihr Leben lang - noch heute - gerät Hildes ganzer Körper in Aufruhr vor Angst, wenn sie um etwas bitten will. Es braucht immer viel starken Willen vom Verstand gegen die heftigen Körpersymptome. Noch heute, mit 80 Jahren, erwartet sie eine zynische Ablehnung oder Abweisung.

Deshalb schiebt sie einfache Dinge lange vor sich her, bremst sich damit aus, nimmt sich Lebensqualität oder geht aus der Angst, abgewiesen zu werden, in die Isolation.

Diese Verhaltensweise ist ihr erst jetzt im Alter so richtig bewusst geworden.

Wenn ihr jemand einen Gefallen tut oder etwas Gutes tun will, dann hat sie stets Angst, dafür eine Gegenleistung bringen zu müssen, die über ihre Grenzen geht. Das machte sie auch zur Einzelkämpferin.

Ihr Körper, ganz besonders ihr Unterleib und ihre Füße sind immerzu verkrampft. Es fühlt sich an, als ob sie dauerhaft in den Startlöchern steht, bereit zu fliehen. Entspannungsübungen und auch Meditationen halfen bisher wenig. Sie hat große organische Probleme im Unterleib.

Im Aushalten von schmerzhaften oder belastenden Situationen ist sie Meister.

Ihr Dauersatz ist: “Da geht vorbei!“ - So harrt sie aus.

 

Hilde hat viele Rückschläge und Niederlagen erlebt. Aber es ist ihr immer gelungen, wieder aufzustehen. Im Rückblick staunt sie über die Kraft, die sie in all den Jahren hatte.

 

Trotz der vielen Therapien bekommt sie noch heute feuchte Hände und ihr Körper verkrampft sich völlig, wenn sie mit dem Thema Missbrauch konfrontiert wird.

 

Dennoch war es Hilde ein Bedürfnis, das alles aufzuschreiben, um es jetzt zurückzulassen auf dem langen Weg ihrer Bestimmung, als eine Erfahrung, für die sie stark genug war oder die sie gestärkt hat. Gewissheit darüber wird sie vielleicht im Jenseits erfahren.

 

Hierzu gehören die Geschichten:

            Neben der Fräse

            Die Beerdigung des Großvaters

            Himmel oder Hölle


Die Kindheit ist die schönste Zeit des Lebens, aber wenn man Pech hat, ist sie auch die Zeit, die man für den Rest seines Lebens bewältigen muss.

Zitat aus einem Film von Dieter Wedel


An alle, die Ähnliches oder Gleiches erlebt haben - sprecht darüber! Seid laut!

Lasst euch nicht einschüchtern und lasst euch helfen!


                                                                                                                        

bottom of page