Non scholae sed vitae discimus
- gabrieleheyne
- 14. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Mai
Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.

Hilde hatte Latein in der Schule. Das hatte nicht sie entschieden, sondern der große Familienrat, nachdem man dem Drängen ihrer Mutter nachgegeben hatte und sie aufs Gymnasium durfte. Damals musste noch Schulgeld bezahlt werden. Hildes Mutter hatte eine ganz kleine Rente, da der Vater noch immer als Kriegsgefangener in Russland war. So war sie froh, in der elterlichen Gärtnerei für Essen und Logis leben zu können. Aber sie lebte in einer Abhängigkeit, aus der sie Entscheidungen oft nicht alleine treffen konnte.
Hilde quälte sich mit dem Latein und stellte sich oft die Frage, ob sie diese Sprache wirklich für das Leben lernt. Sie liebte Mathematik, besonders die Geometrie, zeichnete gerne, glänzte in Deutsch mit ihren Aufsätzen oder dem Gedichtvortrag und liebte das Fach Geschichte.
Sie ging gerne in die Schule und das Lernen machte ihr Freude. Sie liebte das alte, große Schulgebäude mit dem weiträumigen Treppenhaus.
In den ersten Jahren hatten sie noch die alten Schulbänke. Hilde saß gerne in der ersten Reihe. Einige Lehrer hatten die Angewohnheit sich auf den Tisch in der ersten Reihe zu setzen und die Füße auf die Sitzbank zu stellen. Hilde ruckte dann etwas näher an die Mitschülerin und so hatten alle Platz.
Einmal saß die Lateinlehrerin - eine freundliche, hagere Frau - auf dem Tisch neben Hilde. Hilda hatte die Vokabel nicht gelernt und das Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch hinter dem Rücken der Lehrerin. Die Lehrerin rief sie auf und hörte sie Vokabeln ab. Noch heute glaubt Hilde das Herzklopfen zu spüren das sie damals hatte, weil sie die Gelegenheit nutzte und die Worte im Buch ablas. Irgendwann fragte die Lehrerin, ob sie denn ablesen würde? Hilde log mit feuchten Händen. Die Lehrerin beließ es bei der Frage und wandte sich der Klasse zu. Sie war wirklich eine nette Lehrerin.
Der Rektor der Schule führte ein strenges Regiment. Ab und zu ging er durch die Klassen und kontrollierte die Fingernägel seiner Schülerinnen und Schüler! Eine Klassenkameradin, die Gisela, die vor Hilde saß, hatte Schmutz unter den Nägeln. Sie kam von einem Bauernhof und musste zu Hause noch vor der Schule im Stall helfen. Deshalb roch sie meist auch sehr ländlich. Hilde hat das nicht gestört. Ihr war dieser Geruch von zu Hause vertraut. Aber Gisela tat ihr unendlich leid, dass sie so bloßgestellt wurde für etwas, was für Hilde gefühlt, ungerecht und unsinnig war.
Damals war es für Mädchen noch unschicklich, Hosen zu tragen. Nur, wenn es sehr kalt war, ordnete Hildes Mutter eine warme, unförmige Hose über die lästigen langen Strümpfe an. Strumpfhosen gab es damals noch nicht. Man trug Leibchen mit Strapsen, an die die Strümpfe geklemmt wurden. Die Jeans waren eine Sensation und Hilde beneidete die Mädchen, die sie tragen durften. Bei ihr zu Hause empfand man das noch lange als unschicklich.
Gerne erinnert sich Hilde an die Bäckersfrau, die mit einem großen Korb voller süßer Teilchen und Brezeln in der großen Pause an der Schultür stand. Da hat Hilde oft ihr Taschengeld gegen Schneckennudeln eingetauscht, die sie besonders gerne aß. Noch heute denkt sie gerne daran und mag die süßen Schneckennudeln noch immer.
Dann gab es da noch das Klassenbuch, in dem alles über die Schüler stand, was heute unter Datenschutz fällt. Wenn sich jemand etwas zu Schulden hatte kommen lassen oder sich daneben benommen hatte, dann kam das als Eintrag ins Klassenbuch. So ein Eintrag war ähnlich wie Punkte in Flensburg. Die Klassenbücher waren nicht verschlossen und für jeden zugänglich.
Mit einem Schmunzeln denkt Hilde an ihre erste große Schwärmerei. Sie war in der Untertertia und er in der Oberprima. Er war ein großer blonder Mann, schon etwas älter als seine Mitschüler. Das Alter und auch wo er wohnte, stand im Klassenbuch. Man musste nur nach Schulschluss ein wenig warten, bis es ruhig wurde im Schulhaus und alle gegangen waren. Gegenüber der Tür zum Direktor stand der schwarze Kasten mit den Fächern für die Bücher für jede Klasse, fein geordnet - unten die Sexta und oben die Oberprima.
Hildes Klassenzimmer war zu dieser Zeit unter dem Dach neben dem Zeichensaal. Natürlich wusste sie - dank Klassenbuch - wann ihr Schwarm Zeichenunterricht hatte und stand dann - ganz zufällig - auf dem Flur.
Das Klassenbuch hatte auch darüber Auskunft gegeben, dass ihr Schwarm im Chor war.
Chor war freiwillig. Ganz klar, dass Hilde sich im Chor anmeldete. Der Chor wurde von einem engagierten und freundlichen Musiklehrer geleitet, der seine Begeisterung und Liebe zur Musik erfolgreich an die Schüler weiter gab. Viele Schüler kamen zu ihm in den Chor. Mit diesem großen Chor übte er ein wunderschönes Stück ein für eine Festveranstaltung der Schule. Es war das Halleluja aus dem Messias von Händel. Hilde sang Sopran und ihr Schwarm stand im Bass.
Gänsehaut bekommt sie noch heute, wenn sie das Stück hört und jeden Ton mitsingt. Es war ein wunderbares Erlebnis: Die schöne Musik und - den Angebeteten im Blick!
Er erfuhr nie von ihren großen Gefühlen.
Hilde sang gerne. Ihre Klassenkameradin Ursula und Hilde hatten vom Bahnhof aus mit dem Fahrrad den gleichen Heimweg. Dieser führte ein Stück weit am Ortsrand entlang und da erinnert sich Hilde, wie sie laut alle Lieder sangen, die ihnen einfielen. Sie sangen die ganzen alten Volkslieder von „Der Mai ist gekommen“ über „Die Gedanken sind frei“ bis „Am Brunnen vor den Toren.“ Der Musiklehrer hätte seine Freude gehabt.
Hilde seufzt bei all den Erinnerungen. Sie war so gerne in der Schule. Es war auch eine Zeit, in der ihre Lebenswünsche und Träume in den Himmel wuchsen. Sie wurden jäh zerstört, als ihre Mutter ihr sagte, dass sie die Schule verlassen muss, weil sie zu Hause gebraucht wird. Ihre Mutter war schwanger und Hilde musste für das Baby da sein, weil ihre Mutter ja mit ihrem Blumenladen den Lebensunterhalt für die Familie verdiente.
Noch heute - 65 Jahre später - kämpft Hilde mit den Tränen, wenn sie daran denkt. Aber sie hatte früh gelernt zu gehorchen und sich zu fügen. Und so tat sie es auch jetzt.


